Bamee Moo – 12000 Kilometer für eine Nudelsuppe

Ich habe sie alle genervt. Vom ersten Tag meiner Rückkehr aus dem Thailand-Urlaub. Und das war heute vor fast exakt einem Jahr. Jedem, der es nicht hören wollte, hab‘ ich von ihr vorgeschwärmt: Bamee Moo – eine thailändische Suppe, die ab Dämmerungsbeginn direkt an den Straßen in einer Art überdachter Schubkarre gekocht und ausgeschenkt wird. Bei 30 Grad im Schatten.
Jetzt stehe ich am Bahnhof, das Thermometer zeigt minus sieben Grad. Ich warte auf den Zug, der mich von Stuttgart zum Frankfurter Flughafen bringt. In spätestens 36 Stunden werde ich wieder an diesem Suppenstand auf der Insel Koh Samui stehen. Dann wird der Geschmack, der mich ein Jahr lang wie ein Schatten verfolgt hat, in meinen Gaumen zurückkehren. Noch ist das schwer vorstellbar. Feuchte Kälte durchdringt meine leichte Kleidung, der Schneematsch hat die Mokassins aufgeweicht. Einsteigen in den ICE, Endziel Hamburg-Altona, über Frankfurt, Kassel und Göttingen. Freies Abteil, weicher Sitz, am Fenster rast die Welt vorbei.
Exakt 358 Tage sind seit meinem Suchtbeginn vergangen. Damals, an meinem zweiten Urlaubsabend, hat mich Neugier aus dem sterilen Urlaubsressort gelockt, und Bamee Moo mich vom ersten Löffel an gefangen genommen. Doch es war nicht nur der Geschmack. Es war ein Stück Lebensgefühl. Etwas, von dem ich in meiner Wohnwabe im Stuttgarter Osten nie gehört hatte, geschweige denn es spüren konnte: 2,5 Zimmer, 64 Quadratmeter, Bad mit WC. Fenster mit Blick auf die Stahlbetonwand des Hauses gegenüber. Umgeben vom winterlich belastenden Grau der Wolken, die bis auf den Boden zu reichen scheinen. Ein Abschied ohne Schmerz.
Mannheim, Zwischenstopp. Dreckige Lagerhallen, verrottete Schienenstränge, zerlegte Waggons, in der Ferne ein Funkturm. Noch wenige Minuten bis zum Flughafen. Wird sie wohl noch dort verkauft, am selben Ort? 50 Meter vor einer kleinen Kreuzung, Plastikstühle, Klapptische auf nacktem Boden, der sich bei Regen in glitschigen Morast verwandelt. Von derselben Köchin, mit dem gleichen, unnachahmlichen Geschmack? Ein Gaumengenuss, der scheinbar alle Sinne betört. Etwas, das sich im Unterbewusstsein verankert, mich wie ein Stahlseil umschlingt, und zurück in die Urlaubsflucht zerren möchte.
Allabendlich gegen 19 Uhr, wenn meine Gedanken aus dem Büro seicht abklingen wie eine Geigensinfonie, und ich auf ein Abendessen starre, das ich mir meistens schnell zusammenmixe, schlägt Wehmut über mir zusammen wie eine riesige Welle. Jeder Biss ist da ein Druck aufs Knöpfchen der Erinnerung. Meine Kücheneinrichtung verschwimmt vor meinen Augen. Ich sehe wieder eine fremde, exotische Welt, sprudelndes Leben. Und ich fühle mich mittendrin. Auf dem kippelnden Stuhl vor einem abgegriffenen Tisch, neben einem spärlich beleuchteten Suppenstand. Ein paar Handbreit entfernt vom tosenden Verkehr, der sich im Nadelöhr des Städtchens Mae Nam automatisch verlangsamt. Es riecht nach den Gewürzen der Garküche, nach Sauna, Schweiß und Meer. Es riecht nach Leben.
Dieser Geruchsmix ist sowohl in meiner Wohnung, als auch jetzt hier im Zug schwerlich zu erahnen. Draußen verwischen Pferdekoppeln, blassgrüne Wiesen, spiegelnde Pfützen, flurbegradigte Bäche, an deren Ufern sich Weiden eingenistet haben, und graubraune Teerbänder, auf denen Autos rollen, die selbst am Tag mit Licht fahren. Hoch aufragende Betonschlote, die ihre Pest in die Luft wirbeln. Lkw-Karawanen, Stahlhallen, Containerberge. In der Ferne der Odenwald, aus der Distanz nichts weiter als eine Hügelkette, die wirkt, als wäre sie aus einen Stück Schatten geschnitzt.
12.38 Uhr: Ankunft am Flughafen. 13.25 Uhr: einchecken bei Emirates, Flug EK46 nach Dubai. Zweimaliges Röntgen des Handgepäcks. 14.25 Uhr: Abflug. Flughöhe 11000 Fuß: In den ovalen Löchern des Flugzeugrumpfs wandert eine glitzernde, von der Sonne bestrahlte Wolkendecke, die aussieht wie eine Eislandschaft. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach Eisbären und Pinguinen, kann es immer noch nicht fassen, dass mich in weniger als 18 Stunden wohlige Wärme umschließt. 5 Stunden, 20 Minuten berechnete Flugzeit bis zum Zwischenstopp in Dubai. Die zu zerstreuen, steht eine Auswahl von 600 digitalen Kanälen bereit. 200 Filme, unzählige Musikalben. Es gelingt.
Hart setzt die Boeing auf dem International Airport Dubai auf. 3.25 Stunden Aufenthalt. Das Shoppen werde ich mir für den Rückweg sparen. Es ist ein Spaziergang unter goldenen Palmen, durch eine Welt voller Glamour. Porsche. Armani. Gucci. Chanel. Jaeger-LeCoultre. Im zweiten Stock des Shopping-Eldorados reihen sich diverse Imbisse aneinander. McDonalds, Pizza-Hut, Indian-Food, pakistanische Köstlichkeiten, französische Cuisine. Am Ende des kulinarischen Catwalks, von dem man durch eine opulente Glasfläche Blick auf einen Teil des riesigen Fluggeländes hat, auch eine Art thailändisches Fast-Food-Restaurant. Im Angebot: Nudelsuppe. Ich stehe gebannt vor dem Tresen. Starre. Warte. Kämpfe mit mir. Soll ich, oder soll ich nicht?
Bis heute hat es keine andere mit dem Original von der Straßenkreuzung aus Mae Nam aufnehmen können. Seit Suchtbeginn habe ich Bamee Moo in rund 30 thailändischen Restaurants in ganz Deutschland geordert und selten bekommen. Wenn, dann war es immer ein Reinfall. Fade. Bisslos. Verwürzt. Eine Flamme ohne Feuer. Selbst auf meinem Geburtstag, als ich die Suppe nach einem Rezept aus dem Internet selbst zubereitet habe, hatte diese geschmacklich ungefähr so viel mit dem Original gemein, wie ein Gummibärchen mit einer Ölsardine. Dabei hatte ich mir größte Mühe gegeben. War auf der Suche nach frischen Kräutern einen Tag durch Stuttgart gehetzt, und hatte den Sud schon einen Tag zuvor angesetzt, damit er das richtige Aroma bekommt. Doch erstens sind dieselben Kräuter nicht so aromatisch wie in Thailand, zweitens ist die Nudelqualität ausschlaggebend, drittens konnte ich nirgendwo gekochtes und speziell mariniertes Fleisch bekommen, und letztlich bleibt es immer ein Geheimnis, was und wie viel in den Sud kommt, der die einzelnen Zutaten letztlich übergießt und die kulinarischen Puzzlestücke zu einem köstlichen Gesamtbild zusammenfügt.
6,5 Stunden Weiterflug bis Bangkok. Während des Fluges schielt jeder nach seinem Nachbarn, beobachtet, wie er den Joy-Stick, der den Fernsehcomputer führt, bedient. Ein stiller Wettkampf entbrennt darüber, wer sich durch das Menü aus abertausend Möglichkeiten zuerst ans Ziel manövriert. Oder sich die Mahlzeiten möglichst ohne zu kleckern oder seinem Sitznachbarn den Ellenbogen in die Nieren zu bohren, einverleiben kann. Trotz der Enge in der Economy-Class gelingt es mir, ein wenig zu relaxen. Ich döse, sehe dampfende Suppen, die im Licht vorbei rauschender Autos aufblitzen. Sehe Menschen, denen es gelingt, per Stäbchen jede Nudel einzeln zu schnappen, sie zu drehen und elegant in den Mund zu führen. Bamee Moo ist neben Pad Thai, einem im Wog gegarten Mix aus Glasnudeln, Ei, Huhn und diversen Gewürzen, das zweite Nationalgericht des Landes. Mit Preisen zwischen 20 und 35 Baht (40 bis 75 Cent) ist die Suppe darüber hinaus für jeden erschwinglich. Zum Vergleich: Eine Dose Bier kostet 40 Cent, der Liter Benzin ist für 60 Cent zu haben. Handwerker verdienen zwischen 6000 bis 10000 Baht (rund 130 bis 230 Euro) pro Monat. Bamee Moo gilt als Armeleuteessen. Ein Gericht, das ursprünglich aus China stammt, und weder in den Urlaubsressorts noch in den meisten thailändischen Restaurants auf der Karte steht. So ist es nur verständlich, dass mich meine Freundinnen für verrückt erklärt haben: 12000 Flugkilometer, 13 Stunden zusammengefaltet in einer Sitzbatterie wie eine Legehenne ausharren, 24 Stunden beinah ohne Schlaf – für dünne Teigwaren, die im Wasser schwimmen. Verrückt? Vielleicht. Ansichtssache. Doch was ist daran falsch, Träume zu haben und sie zu verwirklichen?
Weiche Landung in Bangkok, das völlig unter einer Dunstglocke begraben ist. Aussteigen. Langer Gang. Einreisestempel. Für einen Aufenthalt bis zu vier Wochen benötigt man als Deutscher Staatsbürger kein Visum. Gepäckausgabe. Letzte Tür. Noch eine Stunde ausharren, dann wird mich eine Boeing per 50-minütigem Flug nach Koh Samui bringen. Der Flughafen der Insel galt lange als einer der kleinsten weltweit. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass Bangkok Airways, denen die 1440 Meter kurze Piste gehört, ihn mit einer relativ großen Boeing anfliegt. Erst beim Durchstoßen der Dunstglocke wird mir klar, wie dicht ich meinem Traum auf den Fersen bin. Unter mir spannt sich die glitzernde Decke des Meeres bis zum Horizont. An dessen Ende mich ein zweiwöchiger Urlaub unter Palmen mit Bamee Moo erwarten. Ich möchte jubeln, einfach losschreien. Vor so viel Glück.
Eigentlich ist die Suppe ein simples Gericht. Ein zwei- bisweilen dreigeteilter Topf wird von einer Gasflamme erhitzt. In dem einen Teil ist Wasser, das zum Erhitzen der Nudeln dient. In den anderen köchelt Sud. Diese sind je nach Garköchin verschieden und gelten als Geheimnis. Als Basis werden oft Knochen ausgekocht. Hinzu kommen zerstampftes, in Chiliöl eingelegtes Knoblauch, Sojasoße, Salz, in Scheiben geschnittener Kohlrabi, zerstückelte Riesenpaprika und diverse Gewürze. Die Nudeln liegen offen aus, man kann bis zu sieben Sorten wählen. Sie werden in einer Schöpfkelle rund eine Minute im kochenden Wasser geschwenkt. Nebenbei werden in einer Schale die weiteren Bestandteile trocken aufgeschichtet. Grünes, geschnittenes Stangengemüse, grüner Chinakohl, gewürfelte Frühlingszwiebeln, Sojasprossen, zerkleinerte Erdnüsse, in Öl frittierter Knoblauch, Blätter der Thai-Petersilie, ein Spritzer Fischsoße als Salzersatz, eine Prise Zucker. Hinzu kommen je nach Kundenwunsch Fischbällchen, Krabbenfleisch, geronnenes Blut oder gekochtes Rindfleisch. Mein Favorit: dünne Scheiben Schweinefleisch aus einem länglichen Filetstück, das zuerst gekocht und anschließend mariniert wird. Anschließend werden die Nudeln hinzu gegeben und das Ganze mit dem Sud aufgegossen. So bleibt das Gemüse knackig, die Nudeln bissfest und das Fleisch herzhaft. Alle Zutaten behalten ihren Eigengeschmack.
Es ist 16.20 Uhr als der Stahlvogel aufsetzt. Ein kleiner bunter Wagen, einer Kindereisenbahn ähnlich, bringt mich zur Gepäckausgabe. Palmen wiegen im warmen Luftstrom, der zärtlich über meine Haut streicht. Draußen vor der Gepäckausgabe warten Taxis. Zwei Stunden später, mein Gepäck ist noch nicht ausgepackt, steht verlassen im Zimmer, sitze ich auf einem wackligen Stuhl. Es ist derselbe Stuhl. Derselbe Tisch. Dieselbe Köchin.
Und derselbe, unnachahmliche Geschmack. Nussig. Scharf. Süß. Crisp. Salzig. Herzhaft. Herb. Fleischig. Frisch. Vital. Voll. Menschgedränge. Strömender Verkehr. 32 Grad, 90 Prozent Luftfeuchtigkeit, in der Ferne ein Gewittersturm und die Brandung der Wellen. Um nichts in der Welt will ich jetzt woanders sein. Oder gar was anders essen.

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Back in town

Zurück von der TT. Mit Millionen von Eindrücken und einem super Gefühl im Bauch. Ich fiebere drauf, die Reportage zu schreiben, freue mich aber besonders, dass die Lackteile für die Forty Eight endlich da sind. Michael hat sich beim Airbrushen mal wieder übertroffen. Das alte Öldosen-Logo, was wir abgewandelt haben, sieht im Vintage-Style auf dem Heckfender einfach spitze aus. Ich bin happy, schraube bis spät in die Nacht, damit ich die Sportster am kommenden Wochenende endlich bewegen kann. Und so sieht das aus:
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TT Camp

Ha! Alle haben gedacht, dass wir auf der Isle of Man im Schlamm versinken. Pustekuchen. Nix da. Es ist strahlender Sonnenschein. Nur haben sie mir das falsche Zelt mitgegeben. Als ich die Verpackung zum ersten Mal sah, dachte ich noch, darin wäre ein maximal komprimierter Schlafsack. Nee, das war ein Zelt. Für alle, die das Luxus-Appartement und die Hundehütte im Vergleich sehen wollen: DSC_9271_2

Aufbruch

Ich bin ganz aufgeregt, denn wir fahren zur Isle of Man. Ich soll dort eine Reportage über die TT schreiben. Mein Lieblingskollege Stefan Kaschel ist auch mit von der Partie. Während der Tour soll er einen Vergleichstest über die beiden Bikes schreiben, mit denen wir unterwegs sind. Eine BMW K 1600 GT und eine Yamaha XTZ 1200 Ténéré. Es ist für mich nicht das erste Mal auf der TT, bereits im Jahr 2000 war ich vor Ort um eine Reportage zu schreiben. Es schon merkwürdig, denn schon auf der Rückreise, wenn man auf der Fähre von Douglas auf’s Festland sitzt, tüftelt man bereits am Plan, im nächsten Jahr wieder zu kommen. Die TT steht nicht nur für das gefährlichste Motorradrennen der Welt, sondern auch für DAS Motorrad-Mekka schlechthin. Jeder motorradbegeisterte sollte zumindest ein Mal im Leben während der Rennen dort gewesen sein. Warum das so ist, dass wird meine Reportage erklären, die in MOTORRAD Heft 17/2013 zu lesen sein wird. Ach ja, und campen sollen wir. Im Schlamm. Und mitten im Leben. Um die TT aus den Augen der Zuschauer heraus zu erleben. Na ja, mal sehen…
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Glück im Unglück

Es war schon immer so: Die Tapferen werden vom Glück belohnt. Zwar hatte ich auf der Anreise strömenden Regen, doch hier in Nordpolen lacht die Sonne. Und das, obwohl über ganz Europa dichte Regenwolken schweben. Warum wir dort hingefahren sind, was wir vorhaben, und um was es sich diesmal dreht, wird an dieser Stelle noch nicht verraten. Die Story über den Trip wird in MOTORRAD 26/2013 zu lesen sein. Zwei kurze Eindrücke will ich doch verraten:
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Augen zu und durch

Es ist zum Verrücktwerden. Seit Tagen regnet es nun schon ununterbrochen. Blöderweise habe ich Urlaub. Noch blöder: Der jährliche Motorrad-Trip mit meinem Cousin Andreas steht an. Ein Mal pro Jahr finden wir ein paar Tage, an denen wir beide gemeinsam frei haben. Aufmerksame MOTORRAD-Leser werden sich erinnern: Wir beide bringen stets eine Story von der Tour mit. Sei es, als die Grappa-Flasche leer war, und wir losgefahren sind, um in Italien am Monte Grappa eine neue Flasche zu kaufen. Oder als Andreas fünf Tage Zeit zum Geburtstag bekam, oder wir den Pfeil auf die Landkarte warfen, und es uns nach Slowenien verschlug. Oder wir den Spuren rund um Rossis Hausstrecke gefolgt sind, um die Frage zu klären, warum die sieben besten italienischen Moto-GP-Piloten alle aus einem Umkreis von nur 50 km stammen. Alles Stories, die in MOTORRAD erschienen sind. Für Menschen mit Benzin im Blut. Aber heute: Dauerregen. Über ganz Europa. Scheibenkleister. Da willst du als Biker nicht vor die Tür. Es will auch niemand wirklich wissen, wie schön es ist, im Regen zu fahren. Doch es hilft nichts. Ich breche auf, fahre von Göttingen 400 Kilometer im Regen nach Brandenburg, in den Heimatort von Andreas, um ihn abzuholen.

Driftversuche

Es ist soweit. Nach dem Oset-Elektrobike hat Paul jetzt das erste Motorrad mit Verbrennungsmotor. Genauer gesagt handelt es sich um eine Yamaha TT 90 R. Ein nicht sehr weit verbreitetes Modell, das zwischen 2000 und 2008 gebaut wurde. Doch Paul hat leider Pech. Es regnet nun schon seit Tagen und so muss er die ersten Fahrten im Schlamm absolvieren. Um es kurz zu machen: Ich konnte ihn erst stoppen, als der Tank leer war. Der Kleine ist so begeistert wie noch nie in seinem Leben. DSC_6761

Fahrbericht Bugatti Veyron 16.4

Zwei Welten, ein Gefühl

Laut Presseprosa hausen im Bugatti Veyron zwei Seelen. Kann der stärkste Sportwagen der Welt tatsächlich lammfromm sein?

„Ehrlich, Sie können Ihrer Frau den Veyron anvertrauen und sie damit zum Einkaufen schicken. Er ist leicht zu fahren. Und so simpel zu bedienen wie ein Golf“, sagt Georges H. Keller, der Leiter für Öffentlichkeitsarbeit im Luxuswagen-Segment von VW. Bitte? 1001 PS, über 400 km/h, acht Liter Hubraum! Gab es irgendwann mal einen Tyrannosaurus-Rex mit Tischmanieren?
In der Tat war es eine langwierige und heikle Mission, dem extremsten Sportwagen aller Zeiten Manieren bei zu bringen. Mal drückten die ungeheuren Rotationskräfte das Getriebeöl aus den Dichtungen, platzen Achsmanschetten, weil der Druck des extrem beschleunigten Schmierfetts zu heftig wurde, dann war es zeitweise fast unmöglich, den Monstermotor ausreichend zu kühlen und lange wurden die angepeilten 400 km/h nicht erreicht. Im Mai diesen Jahres jedoch schienen alle Probleme des rund 1,16 Millionen Euro teuren Veyron 16.4 gelöst. Mehrmals hintereinander knallte der Wagen auf dem Hochgeschwindigkeitskurs in Ehra-Lessien, Kreis Gifhorn, mit über 400 km/h durch die Lichtschranke. „Und das mit den 1001 PS“, sagt Georges Keller, und winkt ab, „haben wir lässig im Griff. Der Motor ist kerngesund und leistet derzeit so um die 1050 PS. Nur für den Fall, dass mal jemand nachmisst. Technisch möglich sind rund 1500.“ Ich bin baff. Noch zehn Minuten, dann darf ich ihn fahren.
Die Luft ist kühl an diesem Septembermorgen in Molsheim bei Straßburg, dem Firmensitz Bugattis. Ein wolkenloser Himmel spannt sich über die 142000 m² Werksgelände. Dietmar Hilbig erwartet mich neben dem Wagen. Er ist verantwortlich für die Qualitätssicherung. Er ist den Veyron Tausende von Kilometern gefahren. Und er ist die Ruhe selbst. „Sie sind der Erste, der ihn in freier Wildbahn bewegen darf“, sagt Hilbig und in seiner Stimme schwingt Respekt. Respekt dem Wagen gegenüber.
Ein altes Sprichwort sagt: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Volltreffer! Der Veyron 16.4 ist ein Freudenfest der Sinne. Eine Designikone. Ein Jahrhundertentwurf. Hier kauert schiere Kraft in der Defensive. Hier duckt sich etwas, das jedem entgegen treten könnte. Der Bugatti wirkt als wäre er ausschließlich aus Rundungen zusammengesetzt, die der Windkanal geboren hat. Hilbig versteckt seine glasklaren Augen hinter einer Sonnenbrille und schwingt sich über den hohen Schweller in den Fahrersitz. Ich winde mich vorerst in den Beifahrersitz.
Das Interieur überrascht. Exklusives Leder, Sitzheizung, Front-Airbags. Kein Überangebot an Kontrollanzeigen oder Messinstrumente, wie man sie aus Flugzeugcockpits kennt, und irgendwie auch hier vermutet. Hier glänzt Luxus durch Minimalismus. Jeder Schalter, jeder Schlitz der Klimaanlage, jeder noch so winzige Winkel des Innenraums verströmt den Charme, für die Ewigkeit entwickelt und designt zu sein. Feinmechanische Arrangements à la Griffe und Schalter sind ausschließlich aus poliertem Aluminium und in dieser Ausführung einzigartig. Die Mittelkonsole, ebenfalls aus Alu, beherbergt neben einer Stereoanlage von Musikguru Dieter Burmester aus Berlin, einer Uhr, der Launch-Control-Taste, einer Warnblinkanlage und den Getriebe-Joystick auch einen eingelassenen Knopf. Es ist der Knopf, der den Anlasser aktiviert.
Können Sie sich an das Geräusch erinnern, wenn sich die Türen der Enterprise öffneten? Eine Sekunde lang ist es hier zu hören. Danach beendet der Anlasser seinen Job und das Surren der 16 Kolben gemixt mit dem Verbrennungstornado aus acht Litern Hubraum verschmilzt zu einem turbinenartigen Tosen. Hilbig stellt den Wahlhebel auf D, Automatik. Wer möchte, kann über zwei Tasten am Lenkrad auch manuell schalten. „Erst mal warm fahren“ sagt er gelassen und wir hoppeln aus dem Werkstor. 18 Liter Motoröl, Castrol 10W50, eine Spezialmischung, und 46 Liter Kühlwasser jagen derweil durch den Irrgarten des rund 720 Kilogramm schweren Motors. Dieser wird in Salzgitter bei VW gebaut, das Siebengang-Getriebe kommt aus England.
Zehn Minuten später. Dietmar Hilbig nickt kurz in meine Richtung. Und gibt Gas. Wir torpedieren eine Kreuzung. Rot, nein dunkelrot! Ich sehe das Geschoss schon auf der anderen Seite. Einen Lkw durchstoßen, im Nachhinein drei Monate Fahrverbot. Dann tritt er auf die Bremse. Es ist, als würde man bei einer Carrera-Autorennbahn den Strom abschalten. Zwei 400-Millimeter-Keramikscheiben vorn, zwei 380er hinten – auf Kommando eingekeilt von je einem Achtkolben-Bremssattel. Mein Kopf fliegt vorwärts, verkrampf stütze ich meinen Körper mit dem Fuß ab. „Der Veyron steht nach 31 Metern bei einer Vollbremsung aus 100 km/h. Ein normaler Wagen braucht knapp zehn mehr“, erklärt mir Hilbig. „Und nach weniger als zehn Sekunden steht er aus 400 km/h.“
400 km/h. Ich frage mich, wie sich das anfühlt. Doch um Topspeed zu erreichen, müsste man den Wagen vor Fahrtantritt erst mit einem zweiten Zündschlüssel, dem Speed-Key, scharf machen. Dann senkt sich das Fahrwerk, von 125 Millimetern Bodenfreiheit bleiben lediglich 60 übrig, ein Heckspoiler fährt aus und sorgt für mehr Anpressdruck und somit stärkere Bodenhaftung. Im „normalen“ Betrieb wird der Veyron bei 360 km/h abgebremst. Vergleichsweise behutsam rollen wir zu einer Autobahnauffahrt. Was dann geschieht, dafür gibt es nur ein Wort: Erbarmungslos. Links im Armaturenbrett ist neben Drehzahlmesser und Tacho auch eine PS-Anzeige eingelassen. Die Skala reicht bis 1001. Ihr Zeiger schnellt hoch, mein mitgebrachtes Mineralwasser drückt sich aus der Büchsenöffnung, vier Reifen radieren ihre Autogramme. Schaltvorgänge sind kaum spürbar, eine Doppelkupplung sorgt für optimalen Kraftfluss und eliminiert Lastwechselreaktionen. Alles egal. Denn die Aussenwelt mutiert zu einem Tunnel aus diffusen Farbstrichen. Nach nur 2,5 Sekunden stehen 100 km/h auf dem Tacho. Innerhalb von 16,7 knackt der Veyron die 300er-Marke. Und fast wie auf Knopfdruck steht man wieder. Dies hier ist kein Autofahren mehr. Das ist fliegen auf der Straße.
Fahrerwechsel. Meine Hände sind feucht, die Herzfrequenz erhöht. Wir stehen irgendwo mitten im Elsaß. Über dem frei liegenden Motor pulsiert Hitze. Meine linke Hand kurbelt am Lenkrad, die Rechte sucht den Rückwärtsgang. Es ist verrückt, aber es braucht nur einen zarten Babyhanddruck, und der Gang ist drin. Der Wendekreis des Sportboliden gleicht dem eines Kleinlasters. Die ersten Meter überraschen. Die Lenkung ist wundersam leicht und direkt, der Pedalweg nahezu identisch mit dem eines VW Golf. Auf den ersten 20 Prozent passiert praktisch nichts unvorhersehbares. Es könnten diejenigen sein, mit denen Ehefrauen einkaufen fahren, denke ich. Nicht, das sich zwischen 1000 und 2000 Touren Golf-Feeling einstellt, aber das Oh-Gott,-bitte-hilf-mir-Gefühl bleibt aus.
Ab 2200 Touren stellt es sich ein. Und zwar ausschließlich, wenn man das Gaspedal grobmotorisch durchtritt. Dann generiert der Motor gigantische 1250 Nm, pusten die vier Turbolader die Macht der 1000-und-irgendwas-PS durch den Alublock. Krallen sich vorn 265er und hinten 335er-Reifen verzweifelt in den Asphalt. Am Scheitelpunkt meiner ersten Kurve gebe ich zu viel Gas. Brachial, aber ohne zu Schleudern, schießt der Wagen auf die nächste Kurve zu. Viel schneller als erwartet liegt sie vor den Rädern. Bremsen! Der Veyron liegt satt. Nickt nicht, schlingert nicht. Verzögert einfach brutal und lauert auf mein nächstes Kommando. Diesmal ist die Gerade nach der Kurve etwas länger. Ich will es wissen. Zweiter Gang, 50 km/h, Scheitelpunkt, beherzter und voller Druck aufs Gaspedal. Bang! – 145 km/h, 6500/min, Drehzahlbegrenzer. Der unglaublich radikale Vortrieb erzeugt das Gefühl, die Erdrotation bei jedem Vollgasbefehl ein wenig zu destabilisieren. Wenn Zeit bliebe, würde man in den winzigen, ovalen Rückspiegel schauen, und hoffen, dass die letzte Kurve es überlebt hat. Sie unter der einwirkenden Wucht nicht völlig zusammen gestaucht oder zur Geraden gedehnt wurde.
Doch der Veyron ist Jekyll und Hyde. Nie hat ein Automobilhersteller 1000 PS so schön als Geschenk verpackt. Nie pure Gewalt so gekonnt domestiziert. Denn wenn es der Fahrer nicht provoziert, lässt sich die Power so geschmeidig abrufen wie in einer Mercedes S-Klasse oder einem VW Passat. An deren Komfort kommt der Bugatti natürlich nicht ganz heran. Zwar dämpft das Fahrwerk ausreichend, doch es lässt den Fahrer nie im Unklaren über die Bodenbeschaffenheit. Vom brettharten Foltergerappel so mancher Sportwagen ist er allerdings meilenweit entfernt.
Wir cruisen stressfrei durch kleine Orte. Die Perspektive ist ungewohnt. Ich schwebe in 25 Zentimetern über den Boden, der Wagen ist 1,99 Meter breit, die seitliche Sicht durch stabile A-Säulen eingeschränkt. Einparken? Nun, mit etwas Übung… Aber auf linker Spur durch eine Autobahnbaustelle? Nur was für Menschen mit Drahtseil-Nerven. Auch die so genannten Speed-Bumps sollten möglichst zärtlich und langsam überfahren werden. Das kommt gelegen. Kein Augenpaar, das am Veyron nicht haften bleibt. „Das Selbstinszenierungspotential ist extrem hoch“, sagt Hilbig. „Auf der anderen Seite erfüllt der Wagen alle strengen VW-Qualitätsnormen.“ Gemeint sind Rüttel-, Crash- und Nässetests sowie endlose Erprobungsfahrten im Finnland und Namibia. Michelin hat als Reifenlieferant weder Kosten noch Mühen gescheut, und den Pilot Sport sowohl für den Topspeed als auch die Leistung des Veyron entwickelt. Und das für eine Kleinserie von maximal 300 Stück. Ganz nebenbei: 35 sind schon verkauft. Zwei davon übrigens an Frauen…
Diesen erlauchten Kundenkreis wird es kaum stören, dass in den Kofferraum gerade mal vier Flaschen Champagner passen, keine echten Winterreifen lieferbar sind, der Wagen bei Vollgas rund 100 Liter Super auf 100 Kilometern schluckt, er so viel kostet wie eine Villa, ein gutes Rennpferd oder dass ein Otto-Normalverbraucher rund 825 Monatsnettolöhne für ihn auf den Tisch packen müsste. Stellt sich die Frage, ob die Sportwagenflunder das wirklich wert ist.
Sagen wir es so: Der Veyron verschenkt seinem Fahrer sekündlich und auf Lebenszeit ein Gefühl, das jeder von uns kennt: Den Moment, als wir nach dem Erhalt des Führerscheins zum ersten Mal einen Wagen allein pilotieren durften. Und was die Sache mit dem Einkaufen fahren betrifft: Georges H. Keller hat Recht. Trotzdem würde ich meiner Frau den Veyron nicht anvertrauen. Sie würde nie zurückkehren… Denn neben allem Spass am neu definierten Abenteuer Automobil: Dieser Wagen ist eine stärkere Versuchung als ein lebenslanger Einkaufsgutschein von Chanel.

ROUTE 66

Welche Geheimnisse bergen die 49,6 Kilometer zwischen Bielefeld und Barntrup? Und warum widmet Mieter Bohlen seinen neuen Song einer Straße? Detektiv K. T. Karlow gerät in den Strudel mysteriöser Ereignisse.

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Na Logo

12. Mai 2013

Das neue Logo ist auf meiner Homepage angekommen. Die Idee, mein Lebensmotto mit einem Motorrademblem zu kombinieren, ist super. Allerdings haben wir Michaels Entwurf wieder über den Haufen geworfen. Zusammen mit Johanna, meiner Web-Masterin, habe ich in der Mittagspause etwas völlig Neues entworfen. Auf dem schwarzen Hintergrund sieht das Logo ganz annehmbar aus, wie ich finde. Es wird nicht nur meine Homepage und meine Bücher zieren, sondern auch als Aufkleber zusammen mit den Büchern verschickt, wenn man sie direkt von mir bezieht.
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